Interview

28. Juni 2019

9 Minuten
Sandra Jäggle

Im Interview mit einer Pflegeexpertin APN

Was ist ambulante psychosoziale Pflege?

Sandra Jäggle: Wir unterstützen Menschen zu Hause, die in einer psychisch schwierigen Situation oder gar Krise sind. Eine psychische Krise kann jede und jeden im Leben treffen. Wir brauchen nicht zwangsläufig eine psychiatrische Diagnose um tätig werden zu können. Es gibt auch Menschen, die auf Grund ihrer Erkrankung sozial isoliert leben und Schwierigkeiten haben, Kontakte zur Aussen- und Berufswelt zu knüpfen. Hier entwickeln wir zusammen mit ihnen Strategien, um wieder Anschluss zu finden und eine geregelte Tagesstruktur aufzubauen. Im Vordergrund steht immer die Stärkung der Selbstwirksamkeit. Betroffene müssen lernen, mit den Symptomen ihrer Erkrankung umzugehen und befähigt werden, den Alltag zu meistern.

Auf was für psychische Krankheitsbilder treffen Sie im Alltag?

Alle, die in der Psychiatrie bekannt sind: Zu den häufigsten gehören affektive Erkrankungen wie Depression und Angsterkrankungen, aber auch Suchtkrankheiten wie übermässiger Alkohol- oder Medikamentenkonsum. Wir betreuen aber auch Menschen mit Schizophrenien, Persönlichkeitsstörungen oder Zwangserkrankungen.

Wie alt sind Ihre Klientinnen und Klienten?

Die jüngste Person ist 15 Jahre alt – nach oben gibt es keine Altersgrenze. Und die Aussage «keine Grenze» gilt übrigens auch für Kulturen und sozialen Schichten. Es kann wirklich alle treffen.

Wann kann ein Mensch ambulant nicht mehr betreut werden?

Kaum jemand begibt sich gerne in stationäre Pflege. Doch wenn wir merken, dass sich der Zustand kontinuierlich verschlechtert und der Mensch seinen Alltag kaum mehr selber bewältigen kann, empfehlen wir einen Aufenthalt in einer Klinik. Dort kann sich die Situation stabilisieren. Die Unterstützung ist umfassender und der Alltag durch die Vorgaben der Klinik strukturiert. Medikamente werden bereitgestellt und das fertig zubereitete Essen wird serviert. Das sind grosse Unterschiede zum «echten» Alltagsleben zu Hause, wo man sich um all das und noch viel mehr selber kümmern muss. Ist jemand akut selbst- oder fremdgefährdend, kann ein stationärer Aufenthalt kaum umgangen werden.

Welche Situationen in Ihrem Berufsalltag waren besonders prägend?

Da kommt mir eine Situation aus dem stationären Bereich in den Sinn. In einer Klinik hatte ich eine schwer depressive Patientin. Der Tod ihres Mannes hatte die Krise ausgelöst. Sie sagte auch kaum ein Wort, konnte keinen Blickkontakt herstellen, war nicht in der Lage, die banalsten Entscheidungen zu treffen. Es gelang in vielen kleinen Schritten, eine Beziehung aufzubauen. Es dauerte Monate, die Stabilisierung gelang und später entwickelte sie sich wieder zu einem blühenden Menschen. Körperhaltung, Auftreten, Mimik – alles veränderte sich mit der Zeit. Nach ihrer Entlassung besuchte sie mich noch zweimal und bedankte sich für die tolle Betreuung. Dabei habe ich nicht mehr gemacht, als ihr aktiv zugehört, das gemeinsame Schweigen ausgehalten und immer wieder motiviert. Sie fühlte sich ernst genommen und unterstützt in ihre schweren Krise.

Gibt es auch Beispiele aus dem ambulanten Bereich?

Seit eineinhalb Jahren betreue ich eine Person, die vor ein paar Jahren aus ihrem Heimatland flüchten musste. Für so einen Menschen gibt es im Alltag viele Herausforderungen und das Administrative ist komplex. Die Deutschkenntnisse sind bescheiden. Dennoch zeigt die Person viel Engagement, sich beruflich und sozial zu integrieren. Es gibt Rückschläge, teilweise schwere psychische Krisen. Immer wieder drückt das Erlebte im Heimatland und auf der Flucht durch. Mich beeindruckt der starke Wille: Das Ziel ist eine stabile Zukunft, Aufgeben keine Option. Und da ist viel Dankbarkeit uns gegenüber, dass wir da sind und unterstützen.

Können Sie eine Wohnung «lesen»?

Ja, schon. Kürzlich hat mich ein Patient in die Wohnung gelassen. Mir fiel sofort auf, dass das Radio nicht eingeschaltet war. Bei allen anderen Besuchen lief immer Musik. Das war ein Anhaltspunkt, dass sich der Klient wieder einer depressiven Episode nähert. Oder wenn bei manisch-depressiven Menschen die zuvor aufgeräumte Wohnung plötzlich aussieht, als hätte eine Bombe eingeschlagen, ist der manische Schub offensichtlich. Der Zustand der Wohnung sagt viel über das Wohlbefinden und den psychischen Zustand des Menschen aus, der darin wohnt.

Worin liegen die Hauptunterschiede zwischen dem Arbeiten in einem stationären Setting im Vergleich zur ambulanten psychosozialen Pflege?

Im ambulanten Bereich ist der individuelle Mensch stärker im Mittelpunkt. Ich habe wirklich Zeit für ihn und werde nicht abgelenkt, wie im Spital durch Patientenrufe oder Visiten. Ich sehe, wie ein Mensch lebt und lerne ihn dadurch persönlicher kennen. In der Regel begleiten wir Menschen in einem ambulanten Setting länger, können mehr ziel- statt problemorientiert arbeiten als in einer Klinik. Zu Hause geht es darum, den Menschen zu befähigen, mit dem Alltag zurechtzukommen. Da ist ein ganz anderer recoveryortientierter Ansatz als in der Klinik möglich.

Vermutlich verläuft auch psychosoziale Pflege nicht immer wie gewünscht. Wie gehen Sie mit Rückschlägen um?

Manchmal gibt es das Gefühl der Machtlosigkeit. Etwa wenn ich realisiere, dass ein Suchtpatient wieder ins alte Fahrwasser gerät. Doch Situationen müssen auch eskalieren können, damit beim Klienten ein Umdenken stattfinden kann. Nur wer innerlich bereit ist, verändert auch sein Verhalten.

Wie halten Sie das Zusehen aus?

Wir versuchen, durch Gesprächstechniken wie die motivierende Gesprächsführung Verhaltensänderungen heraus zu kitzeln und unterstützen in der Umsetzung eines Aktionsplans. In der psychosozialen Pflege übernehmen wir allerdings nicht die Verantwortung für das Leben unserer Klientinnen und Klienten. Sie sind selber für ihr Leben verantwortlich. Darum müssen wir manchmal unser Verantwortlichkeitsgefühl ablegen. Ausser eine Krise ist so schwer und akut, dass der Mensch vor sich oder anderen geschützt werden muss. Es frustriert manchmal, wenn jemand in sein altes Muster zurückfällt. Aber dann muss man sich immer wieder seiner beruflichen professionellen Rolle bewusst werden. Genauso ist es bei sozial isoliert lebenden Menschen, die unter dieser Einsamkeit leiden.

Unser Besuch soll kein Ersatz für Freunde werden. Wir können mit unseren Klientinnen und Klienten üben, soziale Kontakte zu knüpfen und ihnen so helfen, wieder Anschluss zu finden. Aber das Ziel ist, dass sie alleine vor die Tür gehen und Beziehungen aufbauen bzw. aufrechterhalten.

Was begeistert Sie im Arbeitsalltag?

Ich sehe einen Sinn in dem, was ich tue. Mich freut, ein positiver Verlauf einer Therapie. Und natürlich motivierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es macht Spass, mit Leuten zusammenzuarbeiten, die mitdenken und innovative Wege mitgehen. Wir haben letztes Jahr eine Bewegungsgruppe für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ins Leben rufen können. Das freut mich sehr. Wichtig ist mir auch der Ausgleich zur Berufswelt. Wenn bei mir zu Hause die Tür ins Schloss fällt, holt mich mein kleiner Sohnemann in eine andere Welt.