Kann ein erneuter Spitalaufenthalt verhindert werden?

Deborah Janz steigt kurz von ihrem Fahrrad ab und lässt ihren Blick durch die Gegend schweifen, um sich zu orientieren. «Hier war ich noch nicht oft. Doch genau das schätze ich an meinem Beruf: Es gibt immer wieder Neues!», erklärt sie mit einem Lächeln. «Hier lang», sagt sie bestimmt und zeigt nach links, nachdem sie die Adresse auf ihrem Smartphone gefunden hat.

Deborah Janz ist als Advanced Practice Nurse (APN) bei Spitex Zürich eine hochqualifizierte Pflegefachperson, die anspruchsvolle und hochkomplexe Pflegesituationen begleitet. Sie ist Master of Sciene in Pflege (MScN) und verfügt über eine erweiterte Fachexpertise. Zu ihren Kernkompetenzen zählt auch, Betroffene und Angehörige beim täglichen Umgang bei einer Erkrankung zu beraten und zu befähigen. Immer häufiger erkranken ältere Menschen chronisch und mehrfach. Bei deren Betreuung und Pflege nehmen Pflegeexpertinnen APN zunehmend eine Schlüsselrolle ein.

Wie hat sie sich auf den neuen Kunden vorbereitet? «Ich habe mit dem Spital gesprochen und auch mit seiner Hausärztin», sagt Deborah Janz. Der neue Kunde ist ein älterer, verheirateter Mann. Ihm war ein Herzschrittmacher eingesetzt worden und ist seit einer Woche zu Hause. «Leider hat sich sein Gesundheitszustand nicht wie gewünscht verbessert», erklärt Deborah Janz. Geht es nicht bald aufwärts, droht ein weiterer Spitaleintritt. Das soll jedoch vermieden werden. Vor dem Eingriff war er bereits für einige Zeit hospitalisiert. «Wegen einer Infektion», sagt die APN. Die Spitalaufenthalte haben ihn entmutigt: «Er hat gesagt, er würde langsam seinen Lebenswillen verlieren». Jetzt drückt sie die Klingel, ein Summen ertönt, die Tür ist entriegelt. Das alte Treppenhaus knarrt bei jedem Schritt.

Spezialwissen in die Spitex tragen

Die Pflegeexpertise, welche die APNs in die Spitexpflege einbringen, ist relativ neu. Das Projekt CASE, das Spitex Zürich Sihl 2017 lanciert hat und das wissenschaftlich begleitet wird, klärt erstmals, wie das erworbene Wissen am besten für eine Spitex-Organisation verfügbar gemacht werden kann. Ein Ziel des Projekts CASE ist, die Rolle einer Pflegeexpertin APN im ambulanten Setting der häuslichen Pflege zu entwickeln. In der Regel fordern die fallverantwortlichen Pflegefachpersonen die Unterstützung einer APN an, wenn sie eine Situation als hochkomplex einstufen. Durch ihre akademische Ausbildung sind APNs gewohnt, aktuelles wissenschaftliches Fachwissen abzurufen und einzubringen. Sie sind Sparring-Partner auf hohem Niveau. Insgesamt können so bessere Lösungen entstehen.

Enge Absprache mit der Hausärztin

Nach einer Stunde macht sich Deborah Janz auf den Rückweg ins Gesundheitszentrum Friesenberg. «Ich habe mit dem neuen Patienten ein klinisches Assessment durchgeführt», erklärt sie. «Zuerst haben wir über seine Befindlichkeit gesprochen und geklärt, wo die Probleme aus seiner Sicht liegen. Danach habe ich eine körperliche Untersuchung gemacht, Blutdruck und Puls gemessen, sein Gewicht notiert sowie sein Herz und seine Lunge abgehört.» Darüber hinaus habe sie weitere Tests vorgenommen. Sie wollte herausfinden, wie es um seine Mobilität und seine mentale Gesundheit stehe. Zurück im Gesundheitszentrum Friesenberg greift Deborah Janz sofort zum Telefon. Sie spricht mit der Hausärztin des neuen Patienten. Die beiden Frauen tauschen sich fachlich aus, interpretieren die gemessenen Werte und vereinbaren einen gemeinsamen Hausbesuch am Folgetag. «Jetzt schicke ich ihr meine Testergebnisse. Vier Augen sehen mehr als zwei. Morgen gehen wir gemeinsam zum Kunden und besprechen uns anschliessend.» Das zweite Ziel des Projekts CASE ist die Entwicklung einer neuen Zusammenarbeit zwischen Hausarzt und Pflegeexpertin APN. Dann geht Deborah Janz ins Sitzungszimmer: Eine fallführende Pflegefachperson will mit ihr die komplexe Pflege einer Kundin mit einem komplizierten sozialen Umfeld diskutieren.

Fallführende Pflegefachpersonen ziehen APNs bei

Das Konzept sieht vor, dass fallverantwortliche Pflegefachpersonen eine APN bei komplexen Situationen beiziehen können. APNs sind keine «Super-Nurses», die alles können. Vielmehr arbeiten sie eng mit den Pflegefachleuten zusammen, werden in der Regel in die Pflegeeinsätze für einen gewissen Zeitraum eingeplant. Hier machen sie sich vor Ort ein eigenes Bild, stellen spezifische Fragen, können die Kundinnen und Kunden erweitert untersuchen und besprechen ihre Beobachtungen mit den Hausärztinnen und Hausärzten. Das alles gibt ein umfassenderes Bild und kann zu Anpassungen bei der Medikation und bei den Pflegemassnahmen führen. Idealerweise stabilisiert sich die Situation nach einer gewissen Zeit und die APN zieht sich aus dem Fall zurück.

Wenige Tage später. Deborah Janz fährt mit dem Velo direkt zur Wohnung des Kunden mit dem Herzschrittmacher. Sie braucht längst keine virtuelle Hilfe mehr, um seine Wohnung zu finden. «Ich gehe fast täglich vorbei, denn wir sind in der Phase der sogenannten Verlaufskontrolle.» Wie verlief der gemeinsame Besuch mit der Hausärztin? «Sehr angenehm, sehr professionell.» Gemeinsam hätten sie den Kunden nochmals untersucht, die Schwerpunkte für die Pflege festgelegt und die Medikation besprochen. «Wir haben die Ehefrau einbezogen und unsere Überlegungen mit ihr geteilt», so Deborah Janz. «Das ist enorm wichtig.» Fragen hätten beantwortet werden können. «Und wir kennen ihre Sorgen und Ängste.» Auch hierfür gab es eine befriedigende Lösung. «Es war eine Telefonnummer. Die Ehefrau kann im Bedarfsfall direkt eine Person anrufen, welche die Situation kennt.» Schon ist Deborah Janz im Hauseingang verschwunden.

Der Einbezug von Angehörigen gehört bei der Spitex-Pflege zum üblichen Vorgehen. Einerseits geht es darum, alle verfügbaren Ressourcen zu nutzen. Anderseits helfen die Spitex-Fachpersonen, die Erwartungen der Angehörigen gegenüber dem erkrankten Menschen zu klären. Das ist gerade bei an Demenz erkrankten Personen besonders wichtig. Falsche Erwartungen können bei den Betroffenen zu Überforderung und aggressivem Verhalten führen.

Reibungslose Zusammenarbeit als Erfolgsfaktor

Zwei Wochen später im Gesundheitszentrum Friesenberg. Deborah Janz gönnt sich eine Tasse Kaffee und strahlt. «Wir konnten wahrscheinlich einen erneuten Spitaleintritt verhindern!» Dem Kunden gehe es von Tag zu Tag besser. «Gestern hat er sogar mit seiner Frau einen kurzen Spaziergang gemacht.» Die Lebensgeister seien beim Kunden zurückgekehrt. «Das wirkt sich auf die Ehefrau aus. Sie ist nun optimistischer und traut sich, ihren Ehemann fast alleine zu unterstützen.» Was war das Erfolgsrezept? «Die reibungslose Zusammenarbeit im ganzen Pflegeteam, die engmaschige, fast tägliche Betreuung des Kunden und der regelmässige Austausch mit der Hausärztin», nennt Deborah Janz die Gründe. «Zu Beginn war das Ehepaar mit der Situation überfordert. Vor allem sein körperlicher Zustand bereitete beiden grossen Kummer.» Jetzt verlaufe der Alltag des Ehepaars wieder in geregelten Bahnen.

Hat sich Deborah Janz als APN nur um die Belange der Pflege und die Koordination mit der Hausärztin gekümmert? «Nein. Bei meinen ersten Besuchen habe ich beispielsweise immer das Geschirr abgewaschen. Bei späteren Besuchen hat mir dabei die Ehefrau geholfen. Schliesslich hat auch der Ehemann angepackt. Nun besorgt das Ehepaar wieder gemeinsam seinen Haushalt – ohne mich», sagt Deborah Janz mit einem Augenzwinkern. Was sagt die Hausärztin? «Sie hat sich für die tolle und erfolgreiche Zusammenarbeit bedankt!» Sie sei sehr zufrieden mit dem Genesungsprozess. Was kann man aus dem Fall lernen? Er sei Beispiel dafür, was mit Offenheit und mit guter Zusammenarbeit möglich ist. «Weil wir wahrscheinlich einen erneuten Spitalaufenthalt verhindern konnten, haben wir Kosten gespart. Das darf man auch mal sagen», meint Deborah Janz. Ihr Telefon klingelt, sie geht ran. Vielleicht ist das die nächste Situation, die durch eine gelungene Kooperation von Pflegeexpertin und Hausärztin auf Augenhöhe und klinische Pflegeexpertise entschärft werden kann.